Geschrieben von Jürgen M.der Energiemangel könnte im kommenden Winter zu Konsequenzen führen, die bislang völlig undenkbar erschienen
Tja, könnte. Als Habeck vor drei Wochen die Alarmstufe im Notfallplan Gas verkündet hat, habe ich was vielleicht ziemlich verrücktes gemacht: Ich habe versucht mal in diesem propevollen Internetz etwas dazu zu finden, was da jetzt genau eigentlich überhaupt los ist. Übrigens auch aus den Erfahrungen raus, im letzten Jahr schon vom 14.07. an bis Mitte Oktober, also ca. drei Monate, ohne Gas auskommen zu müssen (Heizung kalt, Wasser kalt, Spoileralarm: Ich habs überlebt).
Dabei habe ich dann das Gas-Mengengerust der Bundesnetzagentur gefunden, grob ein paar Beispielberechnungen dazu, was wann passieren könnte, wenn was bis wann passiert oder eben auch trotz aller Habeckchen Vorsorgeversuche nicht passiert ist. Und mein Eindruck ist, das diese Alarmstufe im Notfallplan Gas erstmal nichts anderes bedeutet, als dass eine Störung der Gasversorgung vorliegt, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt, wobei der Markt aber noch in der Lage ist, diese Situation zu bewältigen, ohne dass nicht-marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden müssen. Das ist kurioserweise auch die Definition von "Alarmstufe" in der Kurzform "SOS-VO", Langform "Verordnung 2017/1938 des Europagedönsrats vom 25. Oktober 2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010", weshalb vor meinem inneren Auge jetzt jedes EU-Land ein ganz wichtiges Büro hat, in dem jemand sitzt, der jeden Tag die anderen wichtigen EU-Gasversorgungsüberwachungsbürositzer informiert, dass das Gas knapp werden könnte, aber egal.
Die Annahmen im Mengengerüst der Bundesnetzagentur wirken auf mich so, dass eine Gasmangellage zwar durchaus in einigen Monaten eintreten könnte, dass die dazu führenden Rahmenbedingungen aber eigentlich schon gewisse Hürden darstellen, die seitens des Staates (ja, sogar seitens Deutschlands, und vielleicht sogar seitens der Gesellschaft) auch erstmal erreicht werden müssten. Der Staat macht hier eigentlich was ganz kurioses, was man in den letzten Jahren in anderen Kontexten nur halbherzig hinbekommen oder auch völlig vermasselt hat: Man bereitet sich im großen Stil und recht schlagkräftig auf eine mit geringer Wahrscheinlichkeit eintretende Krise vor. Bis hierhin finden wir tapfere Katastrophen- und Bevölkerungsschützer das doch eigentlich klasse, oder?
Allerdings: Wenn der Wetterdienst heute eine Vorwarnung veröffentlichen würde, das die Schneeschmelze im Januar zu Hochwasser am Rhein führen könnte, und dass das daraus eine Flutkatastrophe würde, wenn der Schnee im Dezember flächendeckend 3,50m hoch liegt und am Dreikönigstag schlagartig 34° im Bundesdurchschnitt erreicht würden, wie würden Medien, Gesellschaft und Politik darauf reagieren?
Ich habe den Eindruck, nach dem Ausrufen dieser "Alarmstufe" im Notfallplan Gas haben sich auch manche Redakteure, Politiker und Experten mal in diesem propevollen Internetz getummelt, und für sich nach einigen Tagen oder Minuten Recherchevorbereitung recht übereinstimmend festgelegt:
1. Diese SOS-VO ist ja mal echt beschissen zu lesen (das stimmt, ist bei EU-Recht alleine vom Aufbau immer ein Graus).
2. Die ganzen Hintergrundinformationen der Bundesnetzagentur sind zwar einerseits schön bunt, aber auch sehr umfangreich. Wer soll denn das noch alles lesen?
3. Auch die ganzen Lageberichte sind doch viel zu viel Infos, wenn man daraus vernünftige redaktionelle Texte oder politische Ideen gewinnen will. Und nachher steht da noch was drin, was nicht zum gewünschten/vorgegebenen Ergebnis der Recherche passt.
Erst hat man dieses olle RKI halbwegs überstanden (haha, die kommen bald auch wieder), nun fängt diese fiese BNetzA mit dem gleichen Konzept an. Veröffentlichen lustig kombinierte Buchstaben und Zahlen, und erwarten auch noch dass das einer liest, versteht und möglichst nicht fehlinterpretiert. Aber das machen wir nicht mit, stattdessen lieber der einfache Weg: "Krise!"-"Katastrophe"-"Der Kältewinter bringt uns alle um"-"Fehlt das Gas, fliegt uns auch der Strom um die Ohren"...
Einmal scheint dieser Staat recht strukturierte, und augenscheinlich auch vernünftige Krisenvorsorge hinzubekommen, obwohl die EU im Spiel ist, und schon geben alle eifrig Gas beim Beschwören der dramatischsten möglichen Folgen, die einem zu jedem fallenden Schlagwort einfallen. Und ja, die Preisentwicklungen auf dem Energiemarkt finde auch ich richtig beschissen. Aber am Ende ist das ein abzugrenzendes Thema für sich, in D wird wegen der Energiepreise so schnell keiner erfrieren, selbst Hardcore-Bild-Leser schaffen das nicht. Und wenn der hier im Forum schon aus gewisser Tradition immer wieder mal heraufbeschworene ganz große Stromausfall dann doch mal kommen sollte, spart man ja vorübergehend auch wieder. Irgendwie ist mir das Thema derzeit zu doof, ich geh lieber gleich ins Schwimmbad, und hoffe, auch dort hat man schon die Beckentemperatur etwas abgesenkt. Ein bisschen Abkühlung würde doch vielen in diesen Wochen mal wieder richtig gut tun.
"In der Regel machen es die reinen Experten nicht gut. Das ist wie vor Gericht. Der Zeuge weiß, wie es war, versteht aber nichts. Der Gutachter versteht alles, weiß aber nicht, wie es war. Der Richter versteht nichts und weiß nichts, aber er entscheidet - nachdem er alle angehört hat." (Wolfgang Schäuble, Stern-Interview vom 20.06.2013)
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